Donnerstag, 14. Januar 2016, Bibliothek des Sudetendeutschen Musikinstituts, Bezirksklinikum Regensburg |
Sie sind gebürtiger Regensburger, haben aber lange Jahre im Ausland gelebt und leben nun in Koblenz. Für das Interview haben Sie sich jedoch das Bezirksklinikum als Örtlichkeit gewünscht. Was verbindet Sie mit Karthaus-Prüll und was bedeutet Regensburg für Sie heute?
Klaus Hamburger: Naja, hier bin ich zuhause. Nicht unbedingt in diesem Raum, aber gleich drüben im Brunnenhof. Das ist meine Kindheit. Ich bin außerdem nicht nur Regensburger, sondern ich bin auch Kumpfmühler [Anm.: Kumpfmühl ist ein Stadtteil im Regensburger Norden] und wir befinden uns hier ja in Kumpfmühl. Drüben in der Theodor-Storm-Str. 5 bin ich 1953 als Hausgeburt geboren und 1 ½ Jahre vorher ist mein Vater hierher gekommen, weil er eine Stelle als Psychiater im Bezirksklinikum bekommen hat. Und sobald ich ein wenig mehr laufen konnte, so mit zwei oder drei Jahren, gab es nichts anderes, als hierher in die Karthauserstraße mit der schönen Kastanieallee zu gehen. Ich hab ziemlich selbstständig und allein dieses Haus hier entdeckt. Mein Vater war ja jeden Tag in seinen Kernzeiten von 15.00-18.00 Uhr hier, hat da seinen Dienst getan und da hab ich ihn manchmal abgeholt und bin rumgelaufen.
In diese Welt damals rein zu wachsen, ist für mich heute ein großer Reichtum, weil ich schon als Kind gesehen habe, dass das Leben sehr verschieden sein kann und es schon damals Familien gab, die sehr anders lebten, wie wir damals. Und die Art, wie mein Vater den Patienten begegnet ist, ihnen hier einen Zufluchtsort geboten hat, wo sie nichts zu befürchten hatten und sie versorgt wurden, hat mich ebenso nachhaltig geprägt, wie das „Exil“ meiner Mutter. Das zu erleben, dass jemand aus dem lieblichen Untermain [Anm.: Geburtsregion der Mutter], wo wir dann immer die Ferien verbracht haben, in die raue Oberpfalz gegangen ist, weil der Partner hier Arbeit hatte und hier mehr oder weniger Fuß gefasst hat, das war schon beeindruckend. Meine Mutter gehörte ja zu dieser Generation von Frauen, die eher unhinterfragt zuhause blieben und der Mann klar bestimmend war. Ich weiß, dass das nicht einfach war und deswegen hänge ich auch heute noch sehr an ihr, auch wenn sie mittlerweile hier im Bezirksklinikum liegt und ein schwerer Pflegefall ist.
Die Mutter, die ins Exil geht und der Vater, der Bedürftigen Zuflucht schenkt – man könnte meinen, Sie wandeln auf den Spuren Ihrer Eltern, wenn Sie in Koblenz als Klinik- und Gefängnisseelsorger aktiv sind im Einsatz für den Menschen. Was zeichnet denn Ihr Wirken dort aus? Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
Klaus Hamburger: Tja, das ist eine gute Frage. Am Herzen liegt mir immer, dass sich die Leute unterstützt und geborgen fühlen, wenn sie mir begegnen. Ich kann sehr herausfordernd sein und mit einem bestimmten Humor, aber mir ist wichtig, dass der Funke überspringt, als kleiner Akt der Gemeinschaft. Ich kann das nicht beurteilen, in wie weit mir das im Gefängnis gelingt, aber das ist ja ein Ort, wo man völlig unbehaust ist. So unbehaust, wie man es im besten Fall in einem Kloster ist; völlig abgeschnitten. Das kann man sich ja gar nicht intensiv genug vorstellen, wie das ist, wenn man ständig mit Mobiltelefonen zu tun hat und dann an einem Ort ist, wo man keines mehr hat. Oder wenn man am Anfang, in der U-Haft mit seiner Partnerin kommunizieren will und das die Staatsanwaltschaft kontrolliert, dann geht der Brief nach zwei Wochen raus und nach weiteren zwei Wochen kommt erst die Antwort. Eine unglaubliche Entschleunigung!
Damit ist in dieser Sondersituation jeder, der irgendwie mal vorbei kommt, von Bedeutung, sogar der Seelsorger. Und weil ich als Mitarbeiter in einer solchen Institution sehr frei bin, setz ich mich auch bewusst von allem ab, was da an Gewohnheiten einreißt, wie z.B. dass man mit dem Schlüssel an die Tür haut oder ohne zu Klopfen aufsperrt. Also ich klopfe immer noch mit meinen Knöcheln an die Türen und da wissen die Leute schon: das ist eine andere Art. Außerdem ist es die Frage: wie kann man bei dieser Vielfalt der Menschen jedem Einzelnen gerecht werden. Es ist etwas wunderbares, in einem Haus so viele verschiedene Menschen zu haben. Da gibt es welche, die gar nicht verurteilt werden, weil sie zwar in Untersuchungshaft sitzen, sich dann aber rausstellt, dass das Delikt nicht reicht für eine Verurteilung oder gar keines vorliegt, bis hin zu Doppelmördern und Kindsentführern usw., sich also schwere Vergehen aufgeladen haben. Dann noch mit den Menschen im Gespräch zu sein, wo jeder an einem anderen Punkt steht, die Leute einem dann ihre Lebensgeschichte erzählen und auch viel Reue zeigen und sich dann am Ende, wie es in der Bibel auch nicht besser steht, rausstellt, dass die Liebe wirklich der Kern von allem ist … mehr kann ich überhaupt nicht empfangen!
Ich bin im Grunde der, der sich solche Umstände, im Gefängnis wie im Klinikum, ausgesucht hat, weil dort so schnell das „Leben“ durchkommt. Es dauert nicht lang und dann kommt das Leben durch und durch so viele Erfahrungen merke ich, dass ich am richtigen Platz bin. Sehr schnell und ohne Maske, denn kein Richter der Welt kann mich dazu zwingen, etwas von meinen Gesprächen weiterzuerzählen. Würde ich einmal etwas weitererzählen, könnte ich am gleichen Tag meinen Dienst beenden, weil sich keiner der Inhaftierten oder Beamten mir mehr anvertrauen würde. Das gibt mir eine große Freiheit und das bringt auch diesem Haus jenseits der religiösen Ebene sehr viel, weshalb auch das Justizministerium diese Stellen stark unterstützt.
Niemals jemanden beurteilen oder festlegen, sondern immer Fragen stellen. Es ist nach vorne immer alles offen. Seelsorge kann nie sein, jemanden in die Enge zu treiben oder zu bestimmen oder gar ein Wachstum aufzuhalten, sondern immer genau das Gegenteil. Seelsorge ist ganz einfach und kann jeder machen. Man muss sich mit Taktgefühl bemühen und die Leute empfangen. Und das habe ich schon in meiner Kindheit nicht nur durch meinen Vater gelernt, sondern auch dadurch wie hier im Bezirksklinikum mit den Leuten umgegangen wurde. Da war das Beste der damaligen Zeit gerade gut genug und diese Wertschätzung der Patienten hat auch mich auch in meinem Wirken heute im Krankenhaus beeinflusst. Die Pflege ist für mich ein ganz wichtiges Thema geworden, genauer gesagt, die Pflege mitten in der Gesellschaft. Nicht am Rande oder um sozial gut dazustehen, sondern die Pflege gehört mitten rein; für eine gepflegte Gesellschaft. Und dass wir schwach sind, vermenschlicht die Gesellschaft. Wo nur Starke sind, ist es schwierig.
Sie haben in Frankreich 35 Jahre lang als „frère Wolfgang“ der Ordernsgemeinschaft von Taizé angehört und dann die Entscheidung getroffen, Ihr Leben neu aufzustellen. Wie lange haben Sie gebraucht, Ihr „altes“ Leben auch innerlich abzulegen, also sich nicht von Ihrer Vergangenheit her zu definieren oder definieren zu lassen, sondern das Neue in Ihrem Leben zu entfalten? Und was haben Sie von Ihrem Wesen in Ihre neue Lebensform mitgenommen? Sind Sie ein „neuer“ Mensch?
Klaus Hamburger: Nein, ich bin absolut der alte. Und was ich entdeckt habe, waren auch Aspekte, die ich schon erwähnt habe: dass es eine große Kontinuität im Leben gibt. Es hat mir abgrundtief leid getan und ich bin nicht stolz drauf, dass ich feststellen musste, dass ich an so einem Ort wie Taizé nicht weiterleben kann. Das hätte ich mir auch nie träumen lassen. Es war für mich völlig normal, dass ich dort bin und dort völlig aufgehe, aber eben mehr in den Aufgaben als in der Lebensweise eines Bruders dort. Das hat sich herauskristallisiert und das war lange Zeit ein wenig verborgen in mir, weil es eben ein faszinierender Ort ist, um mit Leuten zu arbeiten. In diesem Sinn arbeite ich jedoch auch heute mit Menschen und von daher hat sich für mich, so eigenartig das klingen mag, für mich wenig geändert.
Auch in Taizé habe ich eine sehr tiefe Kontinuität in meinem Leben gesehen. Es hat mir dort geholfen, dass ich viel mit Deutschen zusammengearbeitet, sehr viel Deutsch gesprochen und auch viele Bücher von frère Roger aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt habe. Klar. Aber festzustellen, dass das Leben an diesem Ort nicht mehr weitergeht oder dass ich zwar physisch dort bleiben kann, aber innerlich dann in einer Emigration oder abwesend oder als Zyniker oder so – da hab ich schnell gemerkt: das kann ich nicht. Da würde ich eine Verantwortung nicht wahrnehmen. Aber es ist natürlich hart, sich das eingestehen zu müssen, vor allem auch den Menschen gegenüber, die man sich vertraut gemacht hat, mit denen man unterwegs war. Andererseits ist eine Gemeinschaft, ein gemeinsames Leben keine Partnerschaft. Das ist auch klar und das stelle ich mir noch wesentlich schwieriger vor. Ich habe mir damals, als ich gemerkt habe, dass es sehr sehr akut ist, einfach ein Jahr Zeit gegeben und wollte mit diesem Wissen, das ich hatte, einfach weiter machen, ohne Panik, ohne Zugzwang. In den vielen Gesprächen, die ich damals geführt habe, mit Gruppen oder mit Einzelnen, habe ich dann auch die Frage einfließen lassen, wie das für sie wohl sei, wenn jemand von hier weg ginge. Und die vielen tiefen Antworten von Jugendlichen, die selbst teilweise schon Trennungen erfahren haben und hier in Taizé Raum und Zeit für ihre Gefühle finden, haben mich begleitet.
Theologisch gesprochen: Das Volk Gottes, mit dem ich immer in Verbindung war, hat mir im Grunde den Weg gewiesen. Ergänzt durch Gespräche mit zwei, drei Einzelpersonen habe ich mich gestärkt und frei gefühlt, diesen Schritt zu tun. Was ich da jedoch sagen kann und heute klarer sehe, als noch vor ein paar Jahren: wenn man das gegen etwas macht, dann geht das schwer daneben. Gegen etwas weg zu gehen, kann große Verwundungen und Verletzungen herbeiführen. Es ist wichtig, die andere Seite zu sehen: dass das Leben weiter gehen muss; dass sich das Leben auf jeden Fall Bahn bricht; dass man da nichts zurückhalten kann mit irgendwelchen Deichen und glücklich, wer das ohne Zugzwang tun kann. Es hat ja niemand auf mich gewartet. Es hätte ja sein können, dass da ein Kind wartet, aber das war bei mir auch nicht der Fall.
Und dann kam eine große Erfahrung: ich habe mir gesagt, dass es zu meiner inneren Redlichkeit gehört, dass ich nicht herumrenne und den „frère Wolfgang“ mime. Den habe ich eingepackt und habe mich bei meiner Arbeitssuche, die ja mit 59 Jahren auch nicht mehr so einfach war, als „Klaus Hamburger“ vorgestellt und damit als der, der ich bin. Da bin ich dann einer Person begegnet, der Aufsichtsratsvorsitzenden der Marienhaus-Holding, einer einfachen Franziskanerin, bei der sofort klar war, dass eine Zusammenarbeit gut funktionieren wird und was dann de facto auch so war.
Rückblickend war es für mich nie ein Bruch, sondern vor allem eine Erleichterung, dass ich diesen Schritt tun konnte und dass ich auch den Mut hatte, diesen zu tun. Und heute ist es einfach nur schön zu erleben, dass man zwar reinwachsen kann in eine Position, aber dass man diese Position auch wieder ablegen kann. Nicht das Innere, was man ist und auch nicht die Gaben, die man von Gott geschenkt bekommen hat und was einem andere Menschen schenken. Aber eine Position, also das eher Äußerliche, wie z.B. den „großen frère Wolfgang“ abzulegen, das war für mich eine ganz tiefe, geistliche Erfahrung und wie eine Befreiung. Einfach hinten in einer Kirche zu stehen, so wie ich bin und vorne hält ein Priester den Gottesdienst. Und ich steh einfach hinten drin und bin dabei und sing von hinten nach vorne, weil ich gerne singe und um die Stimmen der wenigen Franziskanerinnen, die es dort noch gibt, zu verstärken.
Oder auch, dass ich von allen im Gefängnis erst einmal gemustert wurde und ohne Bonus da war. Auch das hat mir richtig gut getan. Und dann ist mir noch etwas aufgefallen, was mir vorher noch nicht bewusst war: ich kann mich glücklich schätzen, eine Arbeit gefunden zu haben und verdiene jetzt auch gut. Und am Finanziellen habe ich etwas festgestellt, wo ich bisher immer geglaubt habe, dass ich als „großer Geistlicher“ da drüber stehe und das nicht brauche, aber dem ist nicht so: die Höhe eines Einkommens, das man sich verdient, kann einen auch aufbauen. Ich habe einfach nicht gewusst, dass mir das etwas gibt, wenn ich korrekt bezahlt werde. In Taizé wusste ich das noch nicht. Da war ich ja versorgt und konnte sogar sagen, wo einmal mein Grab sein wird. Das habe ich alles aufgegeben.
Und ich kann nur sagen: ich wünsche es vielen anderen, so eine Erfahrung zu machen und manche machen das ja auch. Frère Roger hat ja auch immer gesagt: geht weg von Taizé, vergesst Taizé und verwirklicht einfach, was euch dort wichtig geworden ist und in aller Einfachheit muss ich sagen: ich mache das und habe sehr viel von Taizé mitgenommen.
Dieser frère Roger, der Ordensgründer Ihrer ehemaligen Gemeinschaft, hat ihr Zusammenleben als Gemeinschaft in den „Quellen von Taizé“ umrissen. „Quelle“ als Bild bedeutet für mich Tiefe, Lebendigkeit und Veränderung. Taucht in Ihnen ein Symbol, eine Metapher auf, wenn Sie gefragt werden, was Ihrem Leben entspricht, was Ihnen gleicht?
Klaus Hamburger: Das Bild der „Quelle“ ist natürlich etwas ganz, ganz wunderbares. Und diesem Bild der Quelle würde ich ein Glas Wasser gegenüber stellen. In der Bibel gibt es ja auch diese Geschichte von Jesus und der Samariterin am Brunnen. Und da erzählt ihr Jesus ja auch von der „Gabe Gottes“. Diese Bilder stehen für mich in einem direkten Zusammenhang: die „Gabe Gottes“ in uns ist eine Quelle, die sprudelt und immer sprudeln wird. Oder poetisch gesagt: eine Liebe, die kein Ende findet und in uns entspringt. Eine Quelle lässt sich ja auch nicht verschließen durch etwas; die bricht immer wieder durch. Und das sehe ich als ganz starkes Bild für mein Leben und daran glaube ich auch: ich glaube an diese Quelle und daran, dass die nicht irgendwo ist, sondern in mich gelegt wurde. Das ist mein Grundvertrauen und das gibt mir eine gewisse Gelassenheit. Und ich glaube natürlich auch, dass diese Quelle in jeden anderen Menschen auch gelegt wurde: in jeden Inhaftierten, in jeden Patienten, in alle, die sich um sie kümmern, in den Rest der Welt und sogar in Leute, die aus unerfindlichen Gründen nicht aus dieser Quelle leben, sondern anderen Schaden zufügen; sie sogar vernichten wollen.
Diese Quelle ist da, unversiegbar! Und da kommt noch etwas dazu, was für mich unverzichtbar ist: Gott will alles von uns, außer, dass wir uns von ihm abhängig fühlen. Eine Abhängigkeit ist mit dieser Quelle ausgeschlossen. Gott ist kein Gegenüber, nichts Pädagogisches. Wenn man jemand alles gibt, was man hat, also die Quelle, die in jedem Menschen sprudelt, dann muss dieser jemand nie mehr zurückkehren, um was zu holen, sondern kann einfach daraus leben. Und wenn man ihm nur ein Glas Wasser geben würde und das Glas wäre leer, dann würde er wiederkommen und um mehr fragen. Das ist auch für meine Gottesbeziehung etwas absolut fundamentales. In dieser Hinsicht ist Gott naiv und verfügbar, aber es ist eben Gott, der die Liebe ist. Und dass Gott die Liebe ist, das ist für mich so klar, wie dieser Schlüsselsatz bei Johannes. Da gibt es nichts dran zu rütteln und das ist die Grundlage meines Lebens. Es ist nicht so, dass ich diese Grundlage immer lebe oder keine Sachen mache, die nicht auch bereuen würde, aber diese Grundlage ist klar.
Interview: Benedikt Ströher
Fotos: Georg Schraml